Ich habe so manches Mal darüber nachgedacht, welchen Sinn seine vielen Reisen nach Indien hatten.
Als er 1967, das sind mittlerweile 30 Jahre her, zum ersten Mal durch Indien reiste, waren es die
Fremde, die Ferne und das Unbekannte, die ihn magisch anzogen. Es war das Reisen selbst, das ständige
Aufbrechen und Weiterziehen. Es war die Faszination des Erlebens, das meist wenig zu tun hatte mit
Begreifen und Verstehen. Diese vielen Bilder und Filme in dieser fremden Welt begeisterten ihn und
zogen ihn noch über Jahre in ihren Bann. Sie wirkten auf ihn wie ein Sog, doch hatte er keine Ahnung,
was das alles mit ihm zu tun haben sollte. Heute weiß ich etwas mehr darüber.
Ramana, wie er Bhagwan Sri Ramana Maharshi einfach nannte, wurde zu einer Symbolfigur, die für ihn in
den verschiedenen Lebensphasen ganz unterschiedliche Bedeutung haben sollte. Ramana deckte so viele
Bereiche in seinem Leben ab, die nie fragten ob sie auch gefielen; sie waren einfach da, erträglich
und genüßlich aber auch schmerzvoll und schier unerträglich. Ramana wurde zum Richtungsweiser zu ihm selbst.
Dies habe ich jedoch erst sehr viel später wahrgenommen und erfahren. Ja, es war eigentlich ganz einfach
und hat doch so lange gedauert. Und immer wieder wirkt Ramana als Medium für schöne und schmerzvolle Erfahrungen.
Ramana begegnete ihm schon, als er 16 Jahre alt war. Damals nahm er aus einem Buch seines
Klassenkameraden ein Bild an sich, das den Titel trug: "Das Urbild des Guru". Das Gesicht
des Mannes auf dem Bild hatte auf ihn eine intensive Ausstrahlung, und es wurde für ihn zum
Sinnbild eines Erleuchteten, was immer er darunter verstand. Dieses Bild begleitete ihn auf
allen seinen Wegen und Bewegungen auf diesem Erdball. Auch in El Salvador, wo wir heute leben,
hat es seinen Raum gefunden.
Daß zu dem Gesicht auf dem Bild auch ein Name gehörte, erfuhr er erst sehr viel später auf
einer seiner zahlreichen Indienreisen in Madurai: Wieder einmal umringt von neugierigen Personen,
die auf englisch ihre Standardfragen an ihn stellten, ließ er sich auf ein Gespräch mit einem Mann
ein, der ihn zu einem kleinen Ashram führen wollte. Trotz der üblichen Bedenken, fremde Personen
zu unbekannten Zielen zu begleiten, ging er mit. Was dann geschah, war so ungeheuerlich, daß es
ihn völlig sprachlos machte. Plötzlich stand er vor einem etwa zwei Meter hohen Foto, auf dem
sein "Erleuchteter" abgebildet war; dasselbe Bild, das er seit seiner Schulzeit mit sich herumtrug.
Das Gefühl, das ihn durchfuhr, war kaum zu kontrollieren; es war eine Mischung aus Begeisterung und
Erschrecken. Und es kam noch besser: In Tiruvannamalai gibt es den Ashram von Ramana Maharshi,
Sri Ramanashramam. Beglückt und aufgeregt zugleich entschloß er sich, mit dem Bus nach Tiruvannamalai
zu fahren. Dies war sein erster Besuch im Sri Ramanashramam.
Es geschah Jahre später im Sri Ramanashramam während seines dritten Besuches; eigentlich galt der
Besuch mehr Helga als dem Ashram, die ihr Häuschen gleich neben dem Ashram hatte, wohin sie nach
der Trennung von Ehemann und Kindern gepilgert war, ein Stück Flucht und Rückzug und ein Stück
Befreiung und Öffnung. Tagelang hatte er in ihrer bequemen Hängematte, die aus Auroville stammte,
Taschenbücher von Castañeda gelesen und war völlig versunken in die fremden und doch so vertrauten
Welten, hier und dort. Helga meinte, es wäre schön, wieder einmal zum Erdbeereisessen nach Pondicherry,
wo sich auch der Ashram von Sri Aurobindo befindet, zu fahren. Daß der Wasserspiegel des Tanks,
der zu dem kleinen Ganesha Tempel neben ihrem Häuschen gehörte und den sie liebevoll pflegte,
von Tag zu Tag sank, bereitete ihr eigentlich nur dann Probleme, wenn sie sich vorstellte,
daß ihre Kinder aus Berlin zu Besuch kommen könnten. Die Mutter, die ihre Familie verlassen
hatte, sorgte sich weiter um ihre Kinder, wie es Mütter eben so oft tun. Ich empfand ihre Regungen
eher als Erleichterung, weil ansonsten im und um den Ashram herum eher wenig Zugeständnisse an
die Belanglosigkeiten des Alltags gemacht wurden. Heilige und Scheinheilige waren darum bemüht,
sich gegenseitig die Jünger abzujagen. Auch unter den "Erleuchteten" macht das Spiel um die und
mit der Macht offenbar nicht halt. Konkurrenzdenken und -handeln kennt eben keine Grenzen. Das
war genau das Richtige für ihn, der eher etwas eigensinnig seine Position als Betrachter des
Geschehens beibehalten wollte. Nur zu den Mahlzeiten teilte er stumm die Gesellschaft der
anderen "Pilger, Wanderer und Suchenden".
Ja, und eines Tages geschah es dann; es muß April 1981 gewesen sein. Er hatte sich einige
Bücher aus der Bibliothek des Ashram ausgeliehen, darunter auch "I AM THAT", Gespräche mit
Sri Nisargadatta Maharaj, ins englische übersetzt von Maurice Frydman. Er begann zu lesen
und konnte nicht mehr aufhören, bis er beide Bände verschlungen hatten. Doch es war nicht
dasselbe Lesen, wie er es sonst erfahren hatte; es war Lesen, Erleben und Erfahren in einem
einzigen Atemzug. Alles schien auf einmal zu stimmen. Alles paßte plötzlich zusammen. Alles
war durchflutet von Einvernehmen und Einverstandensein. Alles war EINS geworden, keine Trennung
mehr, keine unauflöslichen Widersprüche und keine nagenden Zweifel. Die Fragen nach dem Sinn
stellten sich erst gar nicht mehr. Es gab keine Fragen mehr, die nach Antworten hungerten.
Die Sensation war so stark, daß er voll von ihr ergriffen und erfüllt wurde.
Nachdem er die Bücher zu Ende gelesen hatte, stand seine Abreise nach Bombay,
wo Nisargadatta lebt, fest.
Erst später wurde mir klar, daß auch dieser Schritt noch erforderlich war.
Bereits bei seiner Abreise aus Bombay zurück nach Hamburg stand fest, daß sein Reisen nach
Indien zu einem Ende gekommen war. Zwar war es für ihn immer irgenwie klar gewesen,
daß er nicht auf der Suche war, doch für Begegnungen war er stets offen. Es war ihm auch klar,
daß man nicht etwas finden kann, was man gar nicht verloren hat.
Das klingt alles so einfach, und genau so einfach habe ich es auch erleben können,
doch war die Zeitspanne zwischen Hören, Verstehen und Erfahren recht lang.
Was er in dem Zimmer erlebte, in dem Nisargadatta Besucher empfing, ist sicher schon vielen vor ihm
widerfahren, was jedoch nichts an der Einzigartigkeit, die diese Begegnung für ihn hatte, änderte.
An vier aufeinander folgenden Tagen stieg er die enge Holztreppe zu dem winzigen Raum der kleiner
Wohnung im Stadtteil Khetwadi in Bombay hinauf, um eine Stunde lang die Gegenwart von Nisargadatta
zu erleben. Aufgrund einer fortgeschrittenen Krebserkrankung war er stark abgemagert, das Sprechen
fiel ihm schwer, und seine Hände zitterten, wenn er sich etwas Wasser in den Mund fließen ließ.
Er empfing Besucher nur noch eine Stunde am Vormittag und eine Stunde am Nachmittag.
Ich erhielt meinen Platz; sehr genau wurde darauf geachtet, daß Männlein und Weiblein voneinander
getrennt saßen. An der Wand war ein großes Photo von Ramana; ich war ganz eigentümlich berührt davon.
Alles paßte irgenwie zusammen und machte Sinn, ohne wirklich Sinn zu haben. Nisargadatta schaute
mich mit seinen stechenden und durchdringenden Augen an und fragte, wie ich zu ihm gekommen sei.
Ich erklärte es ihm, und er entgegnete:"Mach keine Reklame für mich"; er bekam einen Temperamentsausbruch
und lachte laut. Immer wieder schaute er mich an und sprach zu mir. Am vierten Tag meinte er,
ich solle für die Meditation die Worte "ich bin" benutzen. Fast beiläufig bemerkte er, der Guru sei in mir,
und ich könne jetzt gehen und solle den Dingen nachgehen, die auf mich warten.
Am kommenden Tag flog ich zurück nach Hamburg. In mein Tagebuch schrieb ich:
"Ich empfinde eine große Erleichterung und Befreiung. Es gibt dieses Zwanghafte nicht mehr.
Es kann sein, aber es muß nicht sein. Viel Spannung hat sich in mir gelöst. Keine Fixierung auf
Zukunftsbilder; keine Sehnsucht, die sich auf eine verschwommene Zukunft richtet.
Das Hier und Jetzt allein zählt. Doch es ist noch so schwer und verwirrend, eine Beständigkeit
dieser erfahrenen und sehr persölichen Kraft in mir zu erreichen. Es gibt keinen Zwang - kein Erzwingen.
Laß es einfach kommen - laß es einfach gehen - laß los. ICH BIN."
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